Führungskräfte scheitern sehr oft in Kritikgesprächen, weil sie sich nicht richtig auf die Situation vorbereitet haben. Sie suchen zwar Unterlagen zusammen, sammeln Beweise für das fehlerhafte Verhalten und sprechen mit KollegeInnen. Das kann alles sehr hilfreich für ein Kritikgespräch sein. Die wesentliche Frage der Vorbereitung sollte aber sein: Will ich das Gespräch wirklich jetzt führen? Es gibt viele Gründe, ein Kritikgespräch (noch) nicht zu führen. Um das zu klären, sollte man sich vor jedem Kritikgespräch die folgenden Fragen stellen:
Habe ich ausreichend Informationen, um die Situation beurteilen zu können?
Ein Kunde ruft erbost bei der Führungskraft an und beschwert sich über eine Außendienstmitarbeiterin. Sie sei unhöflich gewesen, habe ihn behandelt wie einen Dienstboten und habe Lügen verbreitet. Ist das ausreichend Information, um ein Kritikgespräch zu führen? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht können Sie vom Kunden noch erfahren, worin die Unhöflichkeit bestanden hat und welche Lügen verbreitet wurden. Es ist schließlich möglich, dass der Kunde eine Preiserhöhung als Unhöflichkeit erlebt hat.
Falls Sie nicht mit dem Kunden sprechen können, dann sprechen Sie mit der Mitarbeiterin, aber zunächst nur, um sich zu erkundigen, was vorgefallen ist. Als Führungskraft glaubt man in vielen Situationen, den Beweis für mangelnde Leistung schon auf dem Tisch zu haben. Falls aber im Gespräch herauskommt, dass diese Beweise nicht stimmen, können Sie nur noch zurückrudern. Das schwächt Ihre Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit bei den nächsten Kritikgesprächen.
Ist mein Problem wirklich das relevante Problem?
Richard ist Abteilungsleiter in einem Logistikunternehmen. Er ist unzufrieden mit seinem Teamleiter, weil dieser seine internen Projekte nicht in der vorgesehen Zeit abschließt. Er möchte ihm das im Rahmen eines Kritikgesprächs sagen. Bevor er das tut, sollte er sich eine wichtige Frage stellen: Ist mein Problem wirklich das relevante Problem? Sehr häufig gibt es andere Ursachen für ein scheinbares Fehlverhalten von MitarbeiterInnen.
Richard erkundigt sich und erfährt, dass die internen Auftraggeber nach Auftragserteilung immer noch ergänzende Zusatzwünsche gemeldet hatten, wodurch sich das Projekt verlängert hat. Kann man vom Mitarbeiter erwarten, dass er diese Zusatzwünsche ablehnt? Nun, in dieser Situation eher nicht, weil die Auftraggeber in der Hierarchie deutlich höher waren. Richard sollte daher ein Gespräch mit den internen Auftraggebern suchen, um das Problem zu lösen.
Wie klar war ich in meinen Erwartungen?
Im Servicecenter einer Bank gibt es hohe Rückstände bei der Bearbeitung von schriftlichen Kundenanfragen. Claudia ist unzufrieden mit Karin, einer ihrer Teamleiterinnen. Claudia hatte Karin gebeten, die Mitarbeiterinnen voll zu unterstützen, damit die Rückstände abgebaut werden. Karin war tagelang bei den Mitarbeiterinnen kaum zu sehen. Claudia lädt Karin zu einem Kritikgespräch ein und beklagt sich über die mangelnde Unterstützung. Karin ist beleidigt und beteuert, die Mitarbeiterinnen doch ohnehin so gut unterstützt zu haben, indem sie selber ganz viele Kundenanfragen beantwortet hat.
Dieses Missverständnis belastet die Beziehung der beiden noch mehrere Wochen lang. Die Erwartung von Claudia war nicht klar genug. Worte wie „Unterstützung“ sind zu allgemein, um als Grundlage für ein Kritikgespräch zu dienen. Es braucht spezifische Erwartungen, um später Kritik üben zu können. Eine solche Erwartung könnte zum Beispiel lauten: „Ich möchte, dass du in den nächsten Wochen fachliche Fragen der MitarbeiterInnen innerhalb von 15 Minuten beantwortest, damit sie zügig weiterarbeiten können.“ Kommen Sie zu dem Schluss, dass die Aufträge, die Sie Ihren MitarbeiterInnen gegeben haben, nicht klar genug waren, dann sollten Sie zunächst den Auftrag neu formulieren und das Verhalten des Mitarbeiters beobachten.
Wie viel Zeit und Energie werde ich voraussichtlich brauchen, um die Situation zu verbessern?
Wenn MitarbeiterInnen fleißig sind und gerne viel Leistung erbringen, kann es doch sein, dass es an der Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit oder auch an der Selbstverantwortung mangelt. Bei allen diesen Punkten handelt es sich um Verhaltensweisen, die die MitarbeiterInnen meistens schon lange in gewohnter Form ausführen.
Es wird wahrscheinlich nicht möglich sein, solche Gewohnheiten durch ein einziges Kritikgespräch zu verändern. Selbst wenn der Mitarbeiter die feste Absicht hat, sich schnell zu verändern, wird er, wenn der Stress groß ist, wieder in sein gewohntes Verhalten zurückfallen. In einer solchen Situation sollten Sie als Führungskraft in der Vorbereitung überlegen, wie viel eigene Zeit und Energie es braucht, um nachhaltig eine Veränderung herbeizuführen. Das Kritikgespräch sollten Sie dann führen, wenn Sie bereit sind, so viel Zeit und Energie zu investieren – andernfalls führt das Gespräch zum starken Frusterlebnis für beide. Der Ärger und die Enttäuschung sind nachher größer als vorher.
Wie viel faktische Macht habe ich, um Fehlverhalten zu sanktionieren?
Simon wurde vor zwei Jahren Leiter der IT-Abteilung einer Fachhochschule. Robert ist der einzige in der Abteilung, der das etwas veraltete System so gut kennt, dass er alle Probleme lösen kann. In letzter Zeit kommt er häufig um mehrere Stunden zu spät. Einmal kam er ohne Entschuldigung einen ganzen Tag gar nicht. Simon könnte ihn kündigen, aber er weiß nicht, wie er ohne Robert die anstehenden Probleme lösen kann.
Simon ist laut Organigramm der Chef. Robert aber hat die faktische Macht. Simon sollte daher gut überlegen, ob er ein Kritikgespräch führt und wenn ja, wie er sein Anliegen formuliert. Sonst kann es passieren, dass ihn Robert schulterzuckend auflaufen lässt. Viele Führungskräfte spüren in solchen Situationen eine ohnmächtige Wut im Bauch, die sie vorwurfsvoll, beleidigend und aggressiv werden lässt. Vermeiden Sie eine solche Eskalation, indem Sie zuerst überlegen, wer in der stärkeren Position ist. Falls das nicht Sie sind, investieren Sie Ihre Zeit und Energie lieber darauf, die Verhältnisse wieder umzudrehen, indem Sie zum Beispiel nach einem langfristigen Ersatz für Robert suchen.
Bedeutet es Resignation, die Gespräche nicht zu führen?
Nein, keineswegs. Als Führungskraft fühlen Sie sich verantwortlich. Sie wollen, dass in ihrem Bereich zu jeder Zeit gute Arbeit erbracht wird. Es gibt Situationen, die es manchmal unmöglich machen, ein Problem sofort zu lösen. Wenn Sie ein Kritikgespräch mit einem Gefühl der Ohnmacht beginnen, werden Sie wahrscheinlich noch ohnmächtiger herauskommen. Ich empfehle Ihnen, Ihre Energie klug einzusetzen. Mit weniger Gesprächen kann man sehr oft mehr Wirkung erzielen.