Wenn MitarbeiterInnen Führungskräfte werden, müssen sie eines ganz schnell lernen: Enttäuschen. Für viele Menschen ist das sehr ungewohnt, weil sie bisher immer bestrebt waren, die Erwartungen ihrer Führungskräfte zu erfüllen. Jetzt ist die Situation anders: Die MitarbeiterInnen haben andere Erwartungen als der Chef. Die KollegInnen auf derselben Ebene finden ganz andere Dinge dringlich. Die KundInnen und Stakeholder haben einander widersprechende Vorstellungen. Viele Führungskräfte, die versuchen, alle glücklich zu machen, überfordern sich und andere. So können Sie nicht erfolgreich führen.
Ende einer Täuschung
Viele Menschen erleben es als ihr persönliches Versagen, die Erwartung eines anderen Menschen zu enttäuschen. Sie haben ein schlechtes Gewissen und fühlen sich schuldig, die Person im Stich gelassen zu haben. Das ist nachvollziehbar, und doch entspringt es einer kindlichen Sehnsucht: „Wenn ich entspreche, werde ich geliebt.“ In unseren komplexen, schnelllebigen Organisationen gibt es viele einander widersprechende Erwartungen. Es ist daher die Pflicht jeder Führungskraft, nicht erfüllbare Erwartungen möglichst frühzeitig und klar zu enttäuschen, damit die Täuschung ein Ende hat.
Lieber heute enttäuscht, als morgen frustriert und ärgerlich
Florian ist Leiter der Serviceabteilung. Sein Chef möchte, dass seine Abteilung Aufgaben aus anderen Abteilungen übernimmt. In der Serviceabteilung gibt es jedoch zurzeit starke Rückstände, weil es seit einer Software-Umstellung immer wieder zu Fehlern kommt. Florian stimmt den neuen Aufgaben zu, obwohl er große Zweifel hat, dass seine Abteilung zusätzliche Aufgaben bewältigen kann. Den Mitarbeiterinnen sagt er zunächst nichts, weil diese sich nach der stressigen Zeit endlich Entlastung erwarten.
Florian hat es vermieden, den Chef oder die MitarbeiterInnen zu enttäuschen. Ein paar Wochen später erfahren die MitarbeiterInnen aus den anderen Abteilungen von den zusätzlichen Aufgaben und sind sehr verärgert über das Schweigen von Florian. Die Übernahme der Aufgaben klappt nicht so, wie es sich Florians Chef erwartet hat. Auch er ist verärgert, weil Florian nicht rechtzeitig gesagt hat, dass der Plan so nicht funktionieren wird.
Kann man „gut“ enttäuschen?
Ich kann sehr leicht beschreiben, wie Sie andere enttäuschen und dabei den größten möglichen Schaden anrichten: seien sie erbost, vorwurfsvoll, beleidigt und geben sie allen anderen die Schuld. Wie kann man jedoch andere enttäuschen und trotzdem die Beziehungen möglichst erhalten? Der beste Weg liegt darin, ruhig zu erklären, warum man eine Erwartung nicht erfüllen kann oder nicht erfüllen möchte. Der wichtigste Punkt dabei: Falls die andere Seite verärgert ist, nehmen Sie diesen Ärger nicht persönlich. Diese Emotion kommt aus einem Gefühl der Ohnmacht und vergeht in den meisten Situationen rasch wieder.
Erklären, solange man noch erklären kann
Florian kann gut begründen, warum er und seine Abteilung diese Aufgaben nicht übernehmen können. Er hat die innere Ruhe und die äußere Klarheit, die es braucht, um zum eigenen Chef zu sagen: „Das geht zurzeit in diesem Umfang und in dieser Geschwindigkeit nicht.“ Viele Menschen warten zu lange, nämlich bis sie selber gereizt, frustriert und aggressiv sind. Erst dann ziehen sie eine Grenze. Das passiert dann oft in einer vorwurfsvollen und beschuldigen Art. Nach dem Motto: „Wie konntest du das nur von mir verlangen.“ Zum Erklären und Begründen fehlen ihnen dann die Worte. Durch ein solches Verhalten gefährden sie das gute Einverständnis mit dem Chef mehr als durch eine frühzeitige Enttäuschung.
0b 40 oder 80 Stunden, die Arbeitszeit hat ein Ende
Unsere Arbeitszeit ist begrenzt, auch dann, wenn wir sie von 40 auf 80 Stunden pro Woche ausdehnen. Das ist ein wichtiger Gedanke für alle Situationen, in denen Ihnen jemand mit der Haltung „Geht nicht, gibt’s nicht!“ begegnet. Die Zeit verläuft linear. Wir können sie nicht anhalten, verdoppeln oder beliebig erweitern. Daher ist es auch berechtigt zu sagen: „Das geht sich meiner Einschätzung nach bis zu dem gewünschten Zeitpunkt nicht aus.“ Üben Sie diese Aussage mit derselben Selbstverständlichkeit zu sagen wie: „In diesen Krug passt ein Liter Wasser, nicht mehr.“
Darf ich MitarbeiterInnen enttäuschen?
Viele Führungskräfte haben ein sehr hohes Verantwortungsgefühl. Sie möchten jedes gemachte Versprechen halten. Diese Erwartung ist sehr oft nicht erfüllbar, weil sich die Umstände verändert haben. Sie sollten daher auch die Erwartungen Ihrer MitarbeiterInnen enttäuschen, wenn es so ist. Die meisten Menschen können Enttäuschungen gut verarbeiten. Außerdem gibt es etwas, das Menschen noch viel weniger mögen, als enttäuscht werden: manipuliert werden. Falls Florians MitarbeiterInnen später herausfinden, dass er schon lange wusste, dass die Abteilung zusätzliche Aufgaben bekommen wird, werden sie wirklich ärgerlich sein, und zwar auf ihn ganz persönlich.
Wen werde ich diese Woche enttäuschen?
Ich empfehle Ihnen daher, sich Enttäuschung von nicht erfüllbaren Erwartungen zum wöchentlichen Fixpunkt zu machen. Setzen sie sich einmal in der Woche in aller Ruhe hin und überlegen Sie: Wer sind die für mich wichtigsten Personen, die zurzeit Erwartungen an mich haben? Welche Erwartungen genau? Inwiefern widersprechen sich die Erwartungen? Welche kann ich erfüllen? Welche Erwartungen werde ich enttäuschen? Wann und mit welcher Begründung? Auf diese Art können Sie langfristig Erwartungen wecken, die sie erfüllen können und somit erfolgreich Führen. Ihre Umwelt wird mit Ihrer Leistung zufrieden sein.